Ganz Interessant ("Autosoziologie" ohne erkenntnistheoretischen Zweifel)
Ganz interessant: Wie oft ich "ganz interessant" sage. Das ist mir aufgefallen, weil ich auf unserem dann doch arg kurzen Sommerurlaub in Kilpisjärvi immer wieder mal kurze Audiobeiträge aufgenommen habe - meistens so 1 bis 3 Minuten - , die mir als kleine Doku, aber auch als Verlängerung und Dokumentation meiner Gedanken während unserer Wanderungen dienen sollen. Ich habe nun vorerst die Kommentare in eine DevonThink Datenbank gepackt und versuche nun all die Beiträge dieser Tage zu sichten und mit Stichworten zu versehen um gemeinsame Themen der verschiedenen Beiträge herauszuarbeiten. Am Ende erhoffe ich mir davon all diese Gedanken untereiander zu verlinken und jedem Eintrag vielleicht mit einem Bild, einer Transkription und einem Kartenausschnitt auszustatten, je nach dem was sich gerade als relevant darstellt. Und diese kleine Doku erlaubt es dann die eigenen Gedanken noch einmal in anderer Weise zu erfahren und hält gleichzeitig aber auch das Urlaubserlebnis für später in interessanter Weise fest. Na mal sehen, ob ich das durchgezogen kriege.
Aber "ganz interessant" sage ich jedenfalls häufig. Was ich damit vielleicht sagen will: "Hier ist etwas interessant, jedenfalls ein bisschen, jedenfalls unter bestimmten Gesichtspunkten, jedenfalls wenn man den Kontext kennt." Diese Form der Relativierung der eigenen Ansicht schon bei der Reflexion, die nicht mehr Bedeutung in Anspruch nehmen will, als sie hat.
Ich denke seit dem ich diese Audioaufnahmen nicht nur aufnehme, sondern hier und da auch sichte, immer wieder: Wie wenig neue Gedanken man eigentlich hat. Und wie sehr bei neuen Gedanken die Zuordnung von vermeintlich Neuem zu den bestehenden Gedanken das Aufregende wird. In einem Bild gesagt: In der Biologie wäre das Entdecken einer neuen Art interessant - das stellt aber die Biologie nicht grundsätzlich infrage. Und bei meinen Gedanken ist es ähnlich. Spinnt man die Skepsis dieser Überlegung weiter, könnte man sich grundsätzlich fragen, welches Vorankommen eigentlich mit dem Verbinden von Gedanken zu Gedankengebäuden seinen Ausdruck findet. Im Prinzip schafft man sich Schemas und Strukturen, die es erlauben entweder tatsächlich Neues als Neues wenigstens seinem Typ nach (oder aus Gründen der Form der eigenen Dokumentation: Ganz egal wie anders etwas ist, die Doku dazu nimmt immer die Form eines Zettels an, damit wird noch jeder ach so andere Gedanke anschlussfähig gemacht) an Bestehendes anzuknüpfen oder als bereits bekannt auszusortieren. Und dann? Nur auf sich selbst bezogen kann man das natürlich tun, es kann einem mitunter das Leben erleichtern, in gewissem Rahmen ist es überlebensnotwendig, man kann Spaß daran haben oder damit eine gewisse intellektuelle Befriedigung erfahren, eventuell erlaubt die Anwendung von Wissen in bewusster oder unbewusster Weise auch einen erhöhten Genuss bereits bei der Beobachtung, aber gerade bei der Erfassung mit meinem privaten, leidlich interessanten Gedanken zur Natur und der Frivolität der Auseinandersetzung mit den eigenen Gedanken etwas später in Form dieser Audiokommentare fällt immer mehr auf, wie sehr mir persönlich die Fraglichkeit der Dinge eigentlich nur eine ist, die durch Kommunikation überhaupt erst entsteht.
Als wir beispielsweise bei der Wanderung aufs Sana-Fjäll an vielen Steinen mit interessanten hellgrünen Flechten vorbeigekommen sind, da richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die Flechte, ich registrierte, dass mich interessieren würde wie schnell diese wachsen und wie alt sie werden, etc. Mich interesssierte weniger die Frage danach wie ich sehe, weder physiologisch noch philosopohisch, oder danach ob das was ich sehe überhaupt in Verbindung steht mit einer am Ende nicht beweisbaren Welt da draußen, auch wenn ich diese Themen ebenfalls registrierte. Mich interessierte hingegen schon, wie ich ad-hoc zuordnete, clusterte, dem Gesehenen Sinn entzog und wie diese vorfristige Ordnung durch verschiedene Formen der Dokumentation haltbar und korrigierbar gemacht werden. Aber: daran ist nichts fraglich in dem Sinn, dass ich diesen explorierenden Fragen grundsätzlich zutraue eine eigentlichere Warheit aufzudecken. Skepsis oder erkenntnistheoretischer Zweifel ist für diese Form der epistemologischen Untersuchungen nicht Voraussetzung, sobald die Welt da draußen nicht mehr in Frage steht, bzw. die Wahrnehmung derselben, vielleicht weil man genug gelesen, gesehen, gelernt hat um einigermaßen passende Erwartungen zu haben an das Geschehen draußen. Es scheint mir daher zunehmend so, dass auf einen selbst zurückgeworfen, sich eigentlich nur Solipszisten mit Problemen konfrontiert sehen, die einen erkenntnistheoretischen Zweifel fruchtbar oder interessant machen. Jedes Fragen nach einer wirklichen Wirklichkeit ermüdet mich jetzt jedenfalls eigentlich immer sofort. Nicht, dass ich in letzter Zeit besonders einleuchtende Texte in diese Richtung gelesen hätte, aber ich kann mich selbst kaum dazu bewegen, das Wissen, Glauben und Meinen, die Mischung aus Fakten und Prinzipien, all das was wie ein Netz aus Referenzen in ihrer Gesamtheit den Leap of Faith aus dem eigenen Kopf raus in die große Welt zulässt in Frage zu stellen. Mir fehlt einfach der Grund dazu. Ich will gar nicht, kann gar nicht guten Gewissens, die moderne Welt, die in ähnlicher Weise miteinander interdependent verknüpft ist destruieren. Mir scheint, dass ich damit lediglich an einer aus Gründen philosphischer Herkunft geadelte (nicht meiner Person, sondern der philosphischen Geste) Verschwörungstheorie bauen würde (nicht, dass ich umgekehrt notwendigerweise zum Weltwissen beitrage...).
Ich glaube, dass mir die Skepsis ausgetrieben worden ist. Man nehme als Beispiel dieses kurze Zitat aus einem der Grundwerke der ANT:
So Laboratory Life is neither an attempt to develop an alternative epistemology nor is it an attack on philosophy. Perhaps the best way to express our position is by proposing a ten-year moratorium on cognitive explanations of science. (Latour, Woolgar, Laboratory Life, S. 280)
Das Zitat wehrt sich hier gegen die Annahme, dass man zur Erklärung von Wissenschaft kognitive Erklärungen voraussetzen muss, das heißt, dass es mit dem Erkennen beginnen muss, mit dem wie Verstehen funktioniert, usw. Dass es überhaupt nötig ist Verstehen zu verstehen um Wissenschaft zu verstehen, daran wird gezweifelt. Aber am Verstehen selbst setzt man nicht mehr an.
Auch kann man die Systemtheorie in gewisser Hinsicht dafür in Verhaftung nehmen: Auch hier spielt die Frage nach dem was Sinn, Welt, Realität ist nur am Rande eine Rolle. Sinn und Welt liegen einfach nur vor und Realität ist als Realitätsunterbau ebenfalls schlicht vorausgesetzt. Ob man sich auf das was man sieht verlassen kann, ist nur bedingt interessant, weil durch die selbreferentielle Geschlossenheit ein Unsicherheitsfaktor ohnehin eingebaut ist.
Kurz: Sowohl Systemtheorie als auch Akteur-Netzwerk-Theorie argumentieren aus einer Haltung heraus, die Fragen des Erkennens in den Hintergrund schiebt. Sicher, diese beiden Theorien oder Herangehensweisen an epistemische Fragen setzen sich in umfänglicher Weise mit den Möglichkeiten und Wirklichkeiten und deren Kontingzen ihres jeweiligen Erkenntnisgegenstandes auseinander, aber das Desinteresse für inhärent unbeantwortbare Fragen (jedenfalls wenn man über das Maß einer wahrscheinlichen Annahme hinausgeht), ist augenscheinlich.
Damit sind wir dann auf der anderen Seite der Unterscheidung angekommen. Mir erschien es, während ich durch die nordwestfinnische Landschaft stapfte zunehmend so, dass die Gewichtigkeit von bestimmten theoretischen Fragen sich vor allem aus Kommunikationsschwierigkeiten ergab. Es sind Fragen der Übertragung, der Übersetzung, der Prüfung, der Haltbarmachung, des verständlich Machens. Auf sich selbst zurückgeworfen interessiert nur ein Subset dieser Fragestellungen, weil ich es mit einer art Autosoziologie zu tun bekomme: Ich stehe mit mir und sonst nur mit mir sehr bekannten und daher in ihrem Verhalten erwartbaren Akteuren in Verbindung und wir machens es unter uns aus. Oder systemtheoretisch ausgedrückt: Es ist an meinen Beobachtungen kein anderes psychisches System beteiligt.
Beides zusammengenommen - das Desinteresse für einen erkenntnistheoretischen Zweifel voraussetzende Fragestellungen einerseits und die Abwesenheit hinreichend komplexer sozialer Zusammenhänge andererseits - engt das was mir da draußen dann noch interessant vorkommt ein. Was bleibt, ist erstaunlich wenig.
Kann man dieses Subset von Fragen auslisten?
- Fragen nach dann noch möglichen Erkenntnisgegenständen
- Fragen nach Qualitäten der Gegenstände
- Fragen nach Methoden - erlernbare, zu kreierende - um die Beobachtung in der einen oder anderen Weise zu manipulieren
- Fragen nach der Ordnung der Gegenstände
- Fragen der Dokumentation dieser Gegenstände
- Fragen des Anschlussfähigkeit und des Anschließbarmachens des eigenen Privatwissens
- Fragen der Bedeutung dessen, was unter der Prämisse meines Lebens bis hier hin noch interessant ist (dieser Blogpost)
Die letzte Frage erscheint mir im Hinblick auf die Interessanz der Gründe und der dazugehörigen Antworten derzeit am Lohnenswertesten zu sein. Zu allen anderen Fragen habe ich mehr oder weniger klare Listen mit möglichen Optionen vor Augen, d. h. hier gibt es weniger zu erkunden und mehr zu tun - das sind also alles irgendwo Fleißaufgaben (und das heißt wiederum es lohnt sich kaum, solange anderes noch interessanter ist). Die letzte Frage hingegen führt mich auf mich selbst zurück und stellt Fragen ans eigene Leben, ans eigene Selbstbewusstsein.
liuea
Wenn ich dazu was bescheidenes sagen darf: sehr spannend zu lesen, Dankeschön für das Teilen der Gedanken und des Fotos.
Vielleicht ist es mit der Erkenntnis ein bisschen wie mit Geld, das den Charakter verdirbt. Nur halt dass Nichtwissen den Mustern unbedingte Zuversicht bei gleichzeitig fast völliger Auflösung egoistischer Tricks beschert. Oder so. Selbstbewusstsein ohne abgehobenes Dasein.
finn-matti Besitzerin
Vielen Dank fürs Lesen!
Nichtwissen und Desinteresse sind sicher verwandt. Und was man nicht weiß, was man vielleicht genauer gar nicht wissen will, das macht auch erstmal keinen relevanten Unterschied in der Beobachtung. Interessant auch die Frage danach, ob man gegenüber bestimmten "eingehegten" Problemkonstellationen insgesamt ermüden kann. Aber das sagst du alles gar nicht, aber irgendwie ließ mich das zunächst darüber nachdenken. :)
Ja, vielleicht muss man bei der Skepsis gegenüber der Welt da draußen aufpassen, dass man nicht sein Interesse für die selbige verliert. Dass man sich nicht nur in Verteidigungskämpfen verliert, die auf biegen und brechen die Möglichkeit einer ganz anderen Welt zumindest theoretisch behauptbar machen - wofür eigentlich? Es gibt doch auf dem Boden der Augenscheinlichkeit genug zu tun? Denn kann man davon absehen, dann geht es auch ganz gut mit einem Selbstbewusstsein, das in der Tat bodenständig ist.
liuea
Wow. Gut gesprochen. Die natürliche Neugier wiederzuentdecken und zu lernen zu beginnen die wichtigste Selbstermächtigung. Alles bodenständige Selbstbewusstsein ist dann wohl nebensächlich da das von mir gemeinte auch im fachlichen Wissen ohne letzte Erklärung bleiben wird und deswegen der ‚Zauber‘ eh nicht verschwindet, nur gilt dann eben: wissen ist (selbst)Macht